Tagesschicht

Ein ganz normaler Tag auf dem Stöberhai

Der ganz normale Tagesablauf auf dem Berg im Turm war keineswegs geheimnisvoll, wie mancher sich das vielleicht vorstellt, die Arbeitsplätze waren rund um die Uhr besetzt und jede Tages- oder Nachtzeit  bestimmte die Arbeit an den Erfassungsplätzen der einzelnen Etagen. 

Der Tag begann früh in der Truppenunterkunft in Osterode, in der die Soldaten wohnten, die „kasernenpflichtig“ waren. Diese jungen Soldaten mussten in der Kaserne schlafen, meist kamen diese auch aus ihren weit entfernten Heimatorten und so hatten sie hier ihr zweites Zuhause. Aber auch ältere Soldaten wohnten hier, es gab einen Block, in dem nur die untergebracht waren, die den Schichtdienst im Turm ableisteten, auch schliefen hier Soldaten, die gerade ihre Nachtschicht beendet hatten einige Stunden, bevor sie sich in die schichtfreie Zeit zu ihren Angehörigen aufmachten. 

In diesem „Block B“ wurde auch am Tage deshalb immer etwas mehr Rücksicht auf diese Kameraden genommen. Doch jene, die zur Tageschicht frühmorgens aufstanden, rappelten sich auf, nahmen ihr Frühstück ein und versammelten sich in der Osteroder-Kaserne an der KfZ-Unterkunft, um in den schon bereitstehenden „KOM“ (Kraftomnibus) einzusteigen. Auch morgens kamen einige Soldaten, die zuhause bei ihren Familien wohnten, nach Osterode und fuhren von hier aus zum Stöberhai. In der Woche fuhren morgens zwei Busse, der frühere wurde von den Kameraden benutzt, die Schichtdienst leisteten, der zweite Bus beförderte die Soldaten des Tagesdienstes zum Turm. Die Fahrt von der Truppenunterkunft in Osterode dauerte je nach Verkehrsaufkommen bis zu 45 Minuten, bevor die Einsatzstellung erreicht wurde. Es war immer ausreichend Gelegenheit im Bus die Neuigkeiten, dienstlich oder privat, auszutauschen, aber auch noch für eine Zeit der Entspannung, um die Augen zu pflegen und sich auf den Dienst vorzubereiten. Unterwegs in Osterode, Herzberg und Bad Lauterberg stiegen ebenfalls noch Soldaten zu, die zuhause wohnten und nicht zur Kaserne nach Osterode mussten. Einen kurzen Verpflegungsaufenthalt machte der Bus in Herzberg oder Bad Lauterberg, um frische Brötchen und Mett für das Frühstück in der Turmkantine mitzunehmen. Die ganze Fahrstrecke betrug 35 Km, und bei schönem Wetter bot der Bus kostenlos denen eine Fahrt durch die schöne Landschaft des Südharzes, die diese Gegend mochten und hier gerne wohnten. Es gab natürlich auch Soldaten, die lieber zuhause waren und die Fahrt zum Turm nicht so sehr genossen. 

Der Bus fuhr von Osterode durch Herzberg, weiter an Scharzfeld vorbei und dann schon fast am Fuße der Einsatzstellung wurde Bad Lauterberg erreicht. Die Fahrt durch diesen Ort war recht lang, bis das Odertal erreicht wurde und bei gutem Wetter konnte man nun schon hoch zum Turm auf den Stöberhai sehen. Der Bus fuhr nun über den Staudamm an der Odertalsperre, vorbei an einem Campingplatz und weiter ging es durch das Glockental in Richtung Stöberhai. Es gab damals noch eine gepflegte Teerstraße und der Bus erreichte kurze Zeit später die Einsatzstellung. 

In der Schleuse, das war der Raum zwischen dem äußeren und inneren Zaun um die Stellung, fand immer die morgentliche Zeremonie des Aufschließens der Tore statt. Das äußere Tor wurde aufgeschlossen, der Bus fuhr hinein, das äußere Tor wurde wieder verschlossen, dann wurde das innere Tor geöffnet und der Bus konnte nun hineinfahren. So hatte nicht einmal eine Maus die Chance, unerlaubt in den inneren Stellungsbereich zu kommen. 

Die nächste Hürde das Innere des Turmes zu erreichen bestand nun darin, den Vorraum des Wachlokals zu betreten und die sogenannte Wechselkarte in ein Fach zulegen, der diensthabende Wachmann entnahm die Karte und übergab dem Soldaten den Turmausweis, den er stets sichtbar an der Brust zu tragen hatte. Dieser Ausweis zeigte, welche Etagen der Beschäftigte im Turm betreten durfte. Dann ging es nach dieser Prozedur erstmal über eine Treppe tief runter in den Schleusengang, der zu einem Raum führte, in dem sich das „schwarze Brett“ mit den Rahmendienstplänen befand und den Beschäftigten die aktuellen dienstlichen Belange zur Kenntnis brachte. Eine Tür führte von hier in einen Raum, der als Gefechtsstand für Alarmübungen eingerichtet war. Aber alle Ankommenden versammelten sich vor der Türe des Liftes, mit dem die einzelnen Etagen schnell und bequem erreicht werden konnten. Das Personal der jeweiligen Schicht, auch Einsatzwache genannt, strebte die Betriebsräume in den folgenden Etagen an:

  1. Obergeschoss – Fernschreiber/Fernsprecher,
  2. Obergeschoss – Richtfunkerfassung auch Drehzahl genannt,
  3. Flugfunkerfassung – COMINT
  4. Etage der Radaraufklärung  ELINT

Hier warteten schon die Soldaten der Nachtschicht sehnsüchtig auf die Ablösung.

Tag Nacht

Natürlich fand, je nach Betriebsamkeit des Gegners ein Gespräch am jeweiligen Arbeitsplatz statt, in dem der Soldat der Nachtschicht die Erfassungslage schilderte, also welche Schwerpunkte in der Suche auf bestimmte Frequenzbereiche, bestimmte Radargeräte und in welchen Räumen besondere Aktivitäten stattfanden. Dies betraf aber nur die Ablösung in der 11. Etage. In der 10. Etage sah das etwas anders aus, weil hier die Erfasser bestimmte Flugfunk-Frequenzen auf Aktivitäten überprüften. Hier wurden entsprechend der sicheren Erfassbarkeit dieser Sprechverkehre ausgewählte Flugplätze zugewiesen, deren Flugbetrieb von Beginn an bis zum Ende akustisch beobachtet wurde. Es gab hier Arbeitsplätze die entsprechend der Flugfunkfrequenzen besonders anstrengend waren, wenn eben die Piloten komplexe Einsätze zu erfüllen hatten und so auch vom Erfasser eine große Erfahrung verlangt wurde, die aus profunden Kenntnissen der verwendeten Terminologie der Kommunikation, sowie aus umfassenden russischen Sprachkenntnissen bestand. In der 8. Etage war das Signalaufkommen gemischt, viele Signale waren technisch zu analysieren, aber auch Sprache war hier zu vernehmen. Auch hier war eine große Erfahrung der Erfasser gefordert, die einerseits gute Kenntnisse der damaligen Richtfunktechnik und elektronischer Datenübertragung, und andererseits sehr gute russische Sprachkenntnisse erforderte um eine militärische Lage aufgrund der erfassten Signale zu erfassen und zu beurteilen.  

Die Fernschreiber im 7. Obergeschoss lebten von dem Betriebsaufkommen der über ihnen befindlichen Etagen, war oben viel zu tun, hatten sie viel Arbeit und die Fernschreiber ratterten pausenlos. Der Fernschreibbetrieb ging bis weit in die 80er-Jahre, bis eine elektronische Meldeerstattung die rappelnden Kisten ablöste. So vergingen noch Minuten der Übergabe der Arbeitsplätze, bis die abgelösten Soldaten in ihre wohlverdiente Freizeit fahren konnten. Für die neue Schicht begann der Tag sogleich am Arbeitsplatz, aber um nochmals die aktuelle Lage allen bekannt zu machen fand in der 10. Etage ein sogenanntes Breefing statt, in dem die Lage der vergangenen Tage in den einzelnen Teilerfassungsbereichen erörtert wurde und hier waren Beschäftigte der 8., 10. und 11. Etage, die als Berichterstatter den übrigen Erfassern diese jeweilige Lage anschließend am Arbeitsplatz erläuterten.  

So war der Betrieb in der Tagesschicht am anstrengendsten, es waren die Erfassungsaufgaben akribisch zu bewältigen und ebenso truppendienstliche Dinge zu erledigen, also Dinge, die die Person des einzelnen Soldaten betrafen, weniger die Erfassungstätigkeit. Das war manchmal ein Spagat, der nicht immer leicht zu erfüllen war und die Motivation der Erfassungstätigkeit des Soldaten schwächen konnte. Auch waren am Tage immer irgendwelche Arbeiten an den Empfangs- und Analysegeräten zu erledigen, die die Konzentration der Erfasser ablenkte. Hohe Temperaturen in den Betriebsräumen, hohe Geräuschpegel durch die erwähnten Arbeiten und der Gespräche der übrigen Anwesenden machte am Tage die Erfassungsarbeit nicht immer leicht. Auch solche negativen Dinge sollen festgehalten werden, aber wie an jedem Arbeitsplatz gibt es Dinge, die eben unvermeidlich sind.  

Aber die Arbeit ging weiter und der Dienst in den fensterlosen Etagen 10 und 11 erfasste die Tätigkeit des Gegners, oftmals arbeiteten diese Teilbereiche zusammen durch empfangene Kommunikationen der Piloten, in denen bestimmte Flugkurse und Tätigkeiten angesprochen oder vermutet wurden und mit Hilfe der aktivierten Radargeräte an Bord oder am Boden bestätigt werden konnten und so durch die gemeinsame Erfassung der Dialoge und Impulse ein Erfassungsergebnis geliefert werden konnte. 

So gingen die Dienststunden dahin und es kam der Augenblick der Ablösung durch die Nachtschicht, die den Dienst zwischen 17:00 Uhr und 08:00 am nächsten Tag übernahm. Der Bus mit den „Tagesdienstlern“ war schon weggefahren und wenn die Übergabe an den Arbeitsplätzen nicht zu lange dauerte, konnte der Bus einige Minuten nach 17:00 Uhr die Rückfahrt nach Osterode beginnen.

Nun war es so, dass die älteren Kameraden heim zu ihren Familien fuhren und die jungen Soldaten ihre Unterkunft in der Kaserne in Osterode aufsuchten. Es gab aber auch von Zeit zu Zeit Zusammenkünfte, die sogenannten Schichtfeten, die heute noch bekannt sind und hieraus sicher noch einige Anekdoten erzählt werden könnten. Schließlich wurde bei solchen Anlässen die Kameradschaft gefördert und es konnte auch einmal ungezwungen Privates besprochen werden. So eine Schicht oder auch Einsatzwache war wie eine Familie. Es wurde auch mal über Kameraden gesprochen, gewisse Dinge kritisiert oder auch für gut befunden, wie das eben in jeder zwischenmenschlichen Beziehung so ist. Aber die Schichten waren gute Kameradschaften und auch heute noch in Gesprächen mit ehemaligen Sektorangehörigen wird gerne davon geprochen. Vielfach ist der Satz in solchen Gesprächen zu hören: „Das war meine schönste Zeit bei der Bundeswehr“ und das ist wirklich ehrlich gemeint.